Im Zug habe ich heute einen kleinen Jungen beobachtet. Er hielt den Adventskalender in der Hand, den ihm sein Vater geschenkt hatte. Den Aussagen von ihm und seiner Mutter nach waren die beiden gerade auf dem Nachhauseweg, nachdem der Kleine beim von der Mutter getrennten Vater zu Besuch gewesen war. Nach einigen Augenblicken riss der Junge sämtliche Türchen am Kalender auf, angefangen bei dem „Goldschatz“ in der Nummer 24.
Ich habe mich gefragt, was das über uns als Menschen aussagt. Ist für uns Zeit nur noch eine Größe, über die wir selbst herrschen wollen und können – ohne das Bedürfnis und die Kompetenz zum Abwarten?
Nach einigen Bissen in die in goldenes Papier verpackte Schokolade landete der Rest im Mülleimer. Das Warten, das habe ich daraus geschlossen, hätte sich wohl für den Jungen sowieso nicht gelohnt. Das Geschenk von Weihnachten, von der „24“, wurde quasi entwertet und als ungenügend beurteilt.
Wenn wir nicht mehr wissen, worauf und warum wir warten, wird das Warten perspektivlos. Wenn wir auf leere Dinge hoffen und von ihnen enttäuscht werden, wird Zeit zu einer irrelevanten Variable und Dinge werden im Zuge dessen austauschbarer, schnelllebig abgelöst – neues Handy, neuer Freund. Kann schon mal vorkommen.
Geduld auf den Bahnreisen
An diesem Wochenende musste ich viele Stunden Zugfahrt auf mich nehmen. Es hat sich aber gelohnt. Ich denke in Momenten, wo mich das Ganze nervt, oft daran, dass Dinge mir auch etwas wert sein müssen, dass es früher auch nicht schneller ging, im Gegenteil.
Geduld entsteht, wo Menschen bereit sind, ‚ihre‘ Zeit loszulassen. Wo sie feststellen und akzeptieren, dass sie eine Ressource ist, die zum Verschenken da ist, die nicht fest in der eigenen Tasche steckt. Stecken soll. In der Bibel steht irgendwo, dass derjenige, der sein Leben loslässt, es gewinnen wird. Und umgekehrt. Wenn wir merken, dass unsere Zeit in Gottes Hand liegt, werden wir gelassener, freigiebiger und weniger gestresst. Was im Advent wahrscheinlich besonders aktuell und angenehm sein dürfte.
Gelassener zu leben bedeutet nicht, dass ich Dingen ihre Dringlichkeit abspreche. Ich setze nur nicht meine eigenen Bedürfnisse und Zeitansprüche an die oberste Stelle, sondern mache die ersten Ränge frei für andere(s).
Zeit ist endlich
Wenn Zeit endlich ist, eine Ende hat, und im Vergleich zur Ewigkeit betrachtet wird, wird sie subjektiv auch wertvoller. Gleichzeitig wird sie freigegeben zum Verschenken, gelockert. Wenn ich die Ewigkeit als den Ort und die Dimension von Zeit sehe, die mich erwartet, macht das was mit meinem Zeitempfinden. Sollte es zumindest.
Bezogen auf das endliche Leben auf der Erde werden Dinge es wert, dass man auf sie wartet. Und trotz schnelllebiger Zeit wertet vermeintlich gestohlene Zeit die Dinge auf, auf die ich ungewollt warten muss. Manchmal liegt der Wert dessen darin, was die verstreichende Zeit mit mir macht.
Mein Verhältnis zur Zeit beeinflusst mein Verhältnis zu den Dingen und Personen. Wie relevant ist es, wie wertvoll, welche Konsequenzen haben Handlungen, wie egoistisch halte ich an meinem Leben fest, in der Angst und Unsicherheit, meine Zeit für Dinge zu verschwenden, die es nicht wert sein könnten?
Wichtig ist es, Antworten zu suchen. Aus der richtigen Perspektive. Warten lernen und geduldig sein mit Perspektive, das ist etwas, das wir im Advent lernen können. In Kleinformat. Und mit den Jahren wird wohl jeder Mensch zum Zeitexperten, der bemerkt, dass sie die wertvolle Ressource ist, aus der unser Leben gebaut ist. Vielleicht sagen wir dann „Endlich!“ und meinen damit nicht mehr die Zeit unseres Lebens, sondern die Ankunft in der Ewigkeit.